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Aus unserer Beratungspraxis (II)

Uff, fragt ihr euch manchmal auch, ob ihr im falschen Film seid? Wir schon. Hier ein kleiner Einblick mit Fällen aus unserer Praxis. Doch zuerst müssen wir natürlich über den werten Herrn Merz sprechen. Das Problem ist nicht, dass Friedrich Merz lügt, wenn er behauptet, dass sich abgelehnte Asylbewerber in Deutschland die Zähne machen lassen würde und deutschen Bürgern deshalb Termine beim Zahnarzt wegnehmen würden. Das Problem besteht konkret darin, dass er damit viele Menschen erreicht, die diese Lügen glauben (wollen). In all den Jahren, in denen wir Geflüchteten dabei helfen, Arzttermin zu vereinbaren, sie nicht selten sogar begleiten, waren zahnärztliche Zermine stets unsere geringste Sorge. Und in den Fachrichtungen, in denen es verdammt schwer ist, halbwegs zeitnah einen Termin zu bekommen, schwelt der Missstand schon lange, nicht erst seit 2015 oder 2022. Da ist politisch gewollte Zwei-Klassen-Medizin die Wurzel allen Übels, nicht Hassan aus Syrien, Ibrahima aus Mali oder Svetlana aus Moldawien. Doch schauen wir uns mal ein paar Fälle aus unserer Praxis, diesmal mit dem Schwerpunkt auf medizinische Versorgung, an.

Der eigentliche Preis einer Behandlung

Er war gerade erst ein Teenager, als er zum Militär eingezogen wurde. In dem westafrikanischen Land herrschte zu diesem Zeitpunkt Bürgerkrieg. Eine Explosion verletzte ihn schwer am linken Bein. Bis heute leidet er unter dieser Verletzung. Doch dazu später mehr. Er floh in andere afrikanische Länder, wurde dort aber von Unruhen oder Hungersnöten eingeholt. Ende der 2000er erhaschte er ein Visa für Polen. Seine Absicht war jedoch nie, dort zu bleiben, er wollte in den Niederlanden um Asyl anzusuchen. Doch das Dublin-Verfahren machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Und so blieb er 10 Jahre in Polen, versuchte sich zu integrieren, heiratete eine Polin, bekam Kinder. Was er in Polen jedoch nie in ausreichendem Maße erhielt, war die medizinische Versorgung, die es ihm trotz körperlicher Einschränkung ermöglichen würde, ein annähernd normales Leben zu führen. Als schließlich auch die Ehe in die Brüche ging, stand er vor dem Nichts. So beschloss er, es abermals mit einem Asylantrag in den Niederlanden zu versuchen. Er kratzte das Geld für eine Fahrkarte zusammen, wurde aber an der deutsch-holländischen Grenze abgefangen und ins Erstaufnahmezentrum in Eisenhüttenstadt gebracht. Dank den Corona-Wirren kam es nicht zu einer Abschiebung nach Polen, mittlerweile ist Deutschland für den Geflüchteten zuständig. Er ist jetzt seit zweieinhalb Jahren hier in Deutschland. Die gute Nachricht: Hier erfuhr er eine adäquate Behandlung seiner Behinderung. Die schlechte Nachricht: Seine Perspektive in Deutschland sieht eher düster aus. Er lebt nun in einer Gemeinschaftsunterkunft nahe Berlin. Dort steckte ihm jemand meine Nummer zu. Zuerst einmal habe ich einen Anwalt eingeschaltet. Doch auch dieser meint, dass die Perspektiven für einen Aufenthaltstitel in Deutschland nicht gut seien. Anders sehe es wohl in Polen aus. Und so sehr er auch Sehnsucht nach seinen Kindern in Polen hat, so sehr fürchtet er, in das Land zurück zu müssen, dass ihm so lange Zeit so übel mitgespielt hat. Er möchte in Deutschland bleiben, weil er erst hier Zugang zu den so dringend benötigten medizinischen Leistungen hat, die eine Arbeitsfähigkeit sicherstellen. Er ist arbeitswillig, will mit dem verdienten Geld seinen Kindern ein gutes Leben ermöglichen. Der Preis für all das ist aber, dass er seine Kinder nicht im Arm halten kann. Ist er wirklich die Sorte „böser Ausländer“, der Deutschen Termine bei Ärzten und in Ambulanzen stiehlt?

Ein abwimmelndes System

Eine afghanische Familie, seit einigen Jahren hier in Deutschland, hatte Anfang 2022 Glück. Nach vielen Jahren, in denen sie in Hostels und Unterkünften in Berlin versauert ist, fand sie gerade noch vor Ausbruch des russischen Angriffskriegs hier in Berlin endlich eine eigene Wohnung. Der Preis dafür war aber hoch. Die erwachsene Tochter, die sich um alle Belange gekümmert hat, obwohl sie sich gerade auf den Beginn ihres Studium vorbereiten sollte, hat den Stress mit einem körperlichen und nervlichen Zusammenbruch bezahlt. Doch das ist Schnee von gestern, ihr Einstieg ins Studium ist mehr als nur geglückt. Eigentlich könnte nun alles gut sein, doch wurde ich dieser Tage wieder um Rat gefragt. Der mittlerweile ebenfalls volljährige Sohn der Familie leidet schon lange an einer psychischen Erkrankung. In den letzten Jahren war er deshalb viele Monate in psychiatrischen Einrichtungen in Berliner Kliniken. Nun hat sich sein Gesundheitszustand zwar leicht verbessert, eine Perspektive hat aber nicht. Die Familie hat sich schon vermehrt um Hilfestellungen bei renommierten Vereinen und Beratungsstellen bemüht, ist aber bislang immer wieder abgeblitzt. Dadurch, dass er nun volljährig ist, fallen Angebote für Minderjährige weg. Und deshalb werde ich, der ich in der Vergangenheit bereits in Krisensituation in bescheidenem Maße Unterstützung leisten konnte, nun versuchen, Türöffner zu sein. Das ist ja das eigentlich frustrierende Element an der Situation. Dass die Organisationen und amtlichen Stellen, die eigentlich Anlaufstelle sein sollten, gerne mal – bewusst oder unbewusst – Hürden aufbauen, die selbst engagierte Familien nicht überwinden können. Man wird erst mal abgewimmelt oder vertröstet. Es braucht leider, leider erst Akteure mit Kenntnis des Systems, die da einen Fuß in die Tür stellen und auch nicht weichen. Ich werde also die nächsten Wochen ein wenig Hirnschmalz und einiges an Beharrlichkeit in eine echte Problemlösung stecken müssen. Und mir ist es wirklich egal, ob dies Herrn Merz genehm ist.

Unsensible Entscheidungsfindung

Mehr als einmal haben wir uns von Geflüchteten anhören dürfen, dass ein Problem Europas die Allergien sind. In Afrika hätten sie keine Allergien gehabt, hier in Europa machen ihnen diese schwer zu schaffen. Gut, dafür gäbe es in Afrika Moskitos und Malaria, das wiederum sei zum Glück hier kein Problem. Wir kennen so einige Allergiker, denen Birke, Ragweed oder Hausstaub ordentlich zusetzen. Und da können auch Cetirizin oder Nasenssprays keine große Linderung schaffen. Darum haben wir schon mehrfach HNO-Ärzt*innen in Berlin aufgesucht. Prinzipiell ist so ein Besuch bei Fachärzt*innen kein Zuckerschlecken. Es muss ruckzuck gehen, für 5 Minuten im Behandlungsraum darf man durchaus eine Stunde Nachbesprechung einkalkulieren, um das Gehörte dann auch einzuordnen. Gerade wenn es beispielsweise um Desensibilisierungstherapie bei Allergien geht. Damals, als so manche tschadischen Geflüchteten, die wir unterstützt haben, noch ausgesprochen unsichere Aufenthaltsperspektiven hatten, wurde gern von ärztlicher Seite darauf hingewiesen, dass man diese auch 3 Jahre lang durchziehen muss, weil sonst der Schaden größer als der Nutzen sein könnte. Konnte man aber Geflüchteten, die lange von einer Abschiebung nach Italien bedroht waren, ob der Aussicht eines nicht unwahrscheinlichen Behandlungsabbruchs wirklich zu einer langfristigen Therapie raten? Irgendwie ist man in der unterstützenden Position dann doch auch in einer Rolle, ungewollt eine Entscheidung für oder gegen die Therapie zu treffen, je nachdem, wie man das Pro und Contra der ärztlichen Einschätzung in der Erklärung gewichtet. Das sollte aber so nicht sein. Ärzt*innen sollten ein unsicheres Zögern dann eben nicht mit den Worten abtun, dass man ja wiederkommen können, wenn man sich entschieden habe. Mehr Zeit für Erklärungen muss sein, selbst wenn im Wartezimmer Herr Merz sitzt.

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